In Libyen ist Krieg. Wirklich? Gilt dort Kriegsrecht? Wer hat wem den Krieg erklärt?
Nein. Es gibt nur eine UN-Resolution 1973 zum Schutz der Zivilbevölkerung, die in drei Phasen umgesetzt werden soll: humanitäre Hilfsaktionen, Waffenembargo, Flugverbotszone. Der Sturz von Revolutionsführer Gaddafi (er ist weder Staatspräsident noch hat er ein anderes „offizielles, staatliches Amt“ inne) ist ausdrücklich nicht das Ziel der Intervention. Bodentruppen sind ausgeschlossen.
Deutschland hatte sich am 17. März im Sicherheitsrat zusammen mit vier weiteren Ländern Brasilien, China, Indien und Russland der Stimme enthalten. Die Kritik an dieser Entscheidung innerhalb der politischen Klasse in Deutschland und bei den Verbündeten im Ausland war heftig. Sie wurde hauptsächlich damit begründet, dass sich Deutschland anders als beim Einsatz im Irak damit gegen alle westlichen Bündnispartner gestellt hat. Die Debatte über unser Abstimmungsverhalten in New York verdeckte aber das eigentlich Neue dieser Entscheidung: Krieg führen zum Schutz von Menschen. Zum ersten Mal wird nach dem Beschluss der UN-Generalversammlung 2005 zur Schutzverantwortung (responsibility to protect, R2P) ein angedrohter Massenmord abgewehrt und der Schutz von Menschen höher bewertet als der Frieden.
Doch was bedeutet diese Entscheidung für das Völkerrecht und den Schutz der Menschenrechte? Wer so fragt, kann durchaus zu der Antwort gelangen: Die vorgelegte UN-Resolution zu Libyen war nicht zustimmungsfähig.
Mir geht es nicht um die Diskussion, ob Deutschland trotz der Nichtbeteiligung am Kampfeinsatz nicht besser zugestimmt hätte. Die Irritationen gerade der europäischen Partner, um es vorsichtig zu formulieren, sind erheblich. Keiner befindet sich gern in falscher Gesellschaft. Mir geht es auch nicht zuerst darum, ob eine selbstbewusste Bundesregierung im Jahr 2011 so entscheiden darf. 21 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland weltweit volljährig. Die Argumentation ist nicht ganz von der Hand zu weisen: Wir dürfen auf Grund eigener Überlegungen, basierend auf Grundgesetz, europäischen Grundwerten und vor der eigenen Geschichte, auch zu Ergebnissen kommen, die unseren Bündnispartnern widersprechen. Ich bin nicht sicher, ob das die leitenden Gedanken aller Beteiligten waren und aus welcher Motivation heraus wirklich diese Entscheidung getroffen wurde.
Mir geht es um das ganz Grundsätzliche: Krieg um der Menschenrechte willen? In Spiegel Online ist sich Thomas Darnstädt sicher: Die Sicherheitsratsentscheidung „wird in die Geschichte des Völkerrechts eingehen: als Wendepunkt im Umgang mit Krieg und Frieden.“
Eigentlich gefällt mir das Bild von Kofi Annan (In Larger Freedom, 2005): Der Frieden in der Welt ruht auf drei Säulen: Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechten. Darf man aufgeben, was getragen werden soll – den Frieden? Das Mittel des Krieges nutzen, um eine der Säulen zu stabilisieren, die der Menschenrechte? Da bleibt für mich, der ich die Idee der Menschenrechte verteidigen will, ein massiver Widerspruch: „Menschenrechte gelten universal oder sie sind nicht.“ (Udo di Fabio). Wieso darf man dann im Krieg Menschen umbringen, meist sogar unbeteiligte Zivilisten? Wie überzeugend wirkt dann unser weltweiter Einsatz gegen die Todesstrafe, also für Menschen, die in der Regel Gewalt angewendet haben und nicht unschuldig sind? Man kann immer mit Selbstverteidigung argumentieren oder überzeugt sein, seine Freiheit am Hindukusch verteidigen zu müssen. Vielleicht gibt es auch so etwas wie internationale Polizeieinsätze?
Aber was tun wir dem Menschenrechtsschutz an, wenn wir in einer Stammesgesellschaft wie Libyen militärisch in einen Bürgerkrieg eingreifen, um bewaffnete Rebellen zu unterstützen? Was bedeutet es, wenn wir gegen diese Rebellen, wenn sie Gaddafi angreifen, die unschuldigen Menschen, die Gaddafi als ziviles Schutzschild benutzt, nicht verteidigen? Obwohl das Teil der UN-Resolution wäre. Ist es dann vielleicht sogar wieder nahe liegend, über Tyrannenmorde nachzudenken?
Die Alternative, gar nichts zu tun, ist auch keine. Zentral bleibt deshalb eine Debatte für folgende Fragen: Was kann mit Völker- und Menschenrecht geregelt werden? Was darf niemals zur Norm werden, wenn wir unsere Wertegrundlage von der Würde jedes einzelnen Menschen, nicht schwächen wollen? Wann und wo muss im Einzelfall politisch entschieden werden und von wem? Bleibt für uns der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf Dauer – wachsender Einfluss Chinas und der aufstrebenden Volkswirtschaften, Schwächung der USA, Uneinigkeit der Europäer – alleinige Quelle der Legitimität und Legalität von Militäraktionen?
Widersprüche sind unvermeidbar. Wir sollten sie uns nur bewusst machen, bevor wir vorschnell Antworten geben!
Zur Erinnerung, was bisher galt: Keine Doppelstandards, sondern gleiche Maßstäbe für alle. Den weltweiten Schutz der Menschenrechte kann man nicht mit Waffengewalt durchsetzen. Es gibt Ziele, die verbieten sich, durch die Mittel, die man zu ihrer Erreichung einsetzen muss.
Um pragmatisch zu enden: Weder muss man die Diktatoren und Despoten dieser Welt ständig umarmen, noch sollte man gleich gegen sie Krieg führen. Es wäre schon Einiges gewonnenen, wenn wir im Umgang mit ihnen dafür sorgen, dass ihr Einfluss nicht steigt, sondern sinkt.